• Der Vortrag über Wahn (4.07. 2000) wurde für den philosophischen Stammtisch geschrieben und solldeutlich machen, zu welcher Interpretationsleistung das Ich unbewusst fähig ist. Zugleich zeigt es auf, überwelches Potenzial das Seinsfeld (unbewusste schöpferische Dynamik) verfügen muss. So ist es nichtverwunderlich, dass die Entwicklung mit wachsenden Datenfülle in beständiger Beschleunigung begriffenist.


    Der Wahn (Einführung)


    Der Begriff „Wahn“ ist ähnlich vorbelastet, und wurde auch bewusst – provokativ – gewählt. Wahn oder Wahnsystem steht in unserer Gesellschaft für Krankheit und für sinnlose, kriminelle Taten. Der Fall Schreiber, den Freud ausführlich schildert, ist der eines Wahnkranken, der in seinen Vorstellungen gefangen ist – weitab von der Realität. Ein anderes Beispiel stellt der Oberlehrer Wagner aus Eglosheim dar, das in der Nähe von Ludwigsburg liegt, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dreizehn Menschen erschoss, einschließlich seiner Familie. Die Tat erfolgte aus seinem Verfolgungswahn heraus, dem er sich in zunehmendem Maße ausgesetzt sah und dem er nicht anders zu entkommen wusste.

    Diese Menschen lebten innerhalb ihrer Welt, ihres Wahnsystems, und doch erachteten sie es als Realität und letztlich ist es auch der Ausdruck der Wirklichkeit. Unsere Vorstellung der Realität basiert unter anderem auf der Wechselwirkung mit der Außenwelt und der Interpretation davon. Ziel ist es, dem Menschen das Überleben zu sichern und je mehr der Einzelne aus dem Gleichgewicht, seiner persönlichen Kreisbahn um den Mittelpunkt, gelangt, desto bizarrer werden die Regulierungsmaßnahmen, sprich das Wahngebilde und die Auswirkungen auf die Außenwelt.

    Doch es gibt auch unspektakulärere Fälle von Wahnsystemen, denen jeder Einzelne von uns unterliegt: Bei einer Umfrage nach dem fahrerischen Können, beurteilten nahezu sämtliche Befragten ihr Können als mindestens durchschnittlich, was natürlich unmöglich ist. Das ist Wahn in milder Form, die auch als Selbsttäuschung bezeichnet wird. An dieser Stelle wird nicht von den durch körperliche Defekte ausgelösten Wahnsystemen die Rede sein.


    Wahngebilde


    Die persönliche Vorstellung der Realität. Sie beruht auf der Wechselwirkung mit der Außenwelt (unbewusst mit dem Seinsfeld) und der Interpretation derselben. Das Wahngebilde dient dem Erhalt des Selbst, indem es Verwirklichungstendenz des Urselbst (Triebenergien), mit der tatsächlichen Verwirklichung in der Realität in Übereinstimmung bringt.


    Der Wahn

    Das Wahnsystem, dass das Ich in seiner vermittelnden, sinnstiftenden Art über uns legt, ist stark und selbst in der Analyse nur in der extremen Ausprägung erkennbar. Zuweilen entlarven wir selbst unser eigenes Wahngebilde, lächeln darüber und bezeichnen es fast entschuldigend als Irrtum oder Sackgasse und wenden uns eiligst davon ab, ohne zu bemerken, das wir bereits dem nächsten Wahngebilde huldigen, bzw. zum Opfer gefallen sind.

    Einige werden jetzt den Kopf schütteln, sich vielleicht an den Kopf tippen oder überhaupt nicht weiter lesen – ein Schutzmechanismus des Ich, welches das Überleben als oberste Priorität besitzt und dieses Ziel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu erreichen versucht. Das Ich als bewusster Teil des Selbst, welcher wie ein Spot über die Außen- und Innenwelt gleitet, nimmt kaum mehr als die Spitze des Eisberges wahr. Das Urselbst bleibt ihm ebenso verborgen bzw. wird von ihm nur in Form von Triebenergien wahrgenommen, die sich in Wünschen, Hoffnungen, Ängsten usw. in der Außenwelt verwirklichen wollen, wie der Großteil der Wechselwirkung zwischen Außen- und Innenwelt. Das Ich, die bedeutendste Errungenschaft des Lebens im Kampf des Überlebens, ist ein Beobachter, der seine Aufmerksamkeit aufgrund der Datenfülle nur auf einige wenige Ausschnitte der persönlichen Wirklichkeit konzentrieren kann und daraus seine Geschichten, seine Wahngebilde webt. Das Ich ist ein Mittler zwischen Gegensätzen – Körper und Geist, Wollen und Sein, altem und neuem

    Menschen, um nur einige zu nennen.


    Entstehung des Wahngebildes

    Der M-Raum (Möglichkeitsraum) des Menschen (Meta-Realität und Bewusstsein: Anhang B.) wird durch sein Urselbst geprägt. Das Urselbst will sich verwirklichen, d.h. Möglichkeiten realisieren und trifft hier auf eine natürliche, aber bedeutsame Barriere zwischen Innen- und Außenwelt, bzw. Verwirklichungstendenz und Realität.

    Das Urselbst sucht sich in der Außenwelt zu verwirklichen, mit anderen Worten: Raumzeitliche Muster werden in die Außenwelt projiziert. Der Vorgang lässt sich anhand eines Beispiels besser verdeutlichen. Für das Urselbst existiert die Idee einer Kugel, das Urmodell, nach welchem sie in der Außenwelt realisiert werden soll. Sie kann groß, klein, winzig oder grün, blau oder bunt sein. Es gibt zahllose Möglichkeiten, die mit der Vorstellung identisch sind.

    Das Urselbst gibt nur den Rahmen vor. Ein musisch veranlagter Mensch muss kein Instrument spielen, um diese Prägung zu entfalten, er kann auch im Kirchenchor singen oder ein begeisterter Operngänger sein. Der Weg der Möglichkeiten ist breit und bietet zahllose Entfaltungsmöglichkeiten. Das Ich reagiert nun auf die Wechselwirkungen, sofern sie über genügend Energie verfügen, damit Aufmerksamkeit überhaupt erregt wird. Es analysiert sie und versucht anhand gespeicherter Daten (Erfahrungen usw.), sie in der Außenwelt zu realisieren, soweit dies unter den gegebenen Umständen möglich ist. Gleichzeitig interpretiert es die Rückwirkung und gibt diese an das Selbst weiter.

    Konnte die Kugel, um bei unserem Beispiel zu bleiben, nicht verwirklicht werden, so webt das Ich ein Wahngebilde, das uns mit der veränderten Situation – einem Oval – leben lässt, ohne das uns der Misserfolg zu sehr aus dem Gleichgewicht bringt. Noch einmal: Urselbst (Prägung des Menschen) und Selbst (aktuales Selbst) sind nie deckungsgleich, sonst hätten wir den Idealfall einer zu hundert Prozent gelungenen Entfaltung, bzw. Verwirklichung und das ist nicht erreichbar.

    Die Unterschiede zwischen Urselbst und Selbst führen logischer Weise zu Spannungen, welche das Ich auszugleichen bestrebt ist; das Selbst muss Überleben und um das zu gewährleisten ist dem Ich jedes Mittel recht. Das impliziert, dass unser Ich Daten verdrängt, unserer Selbstschau nicht zugänglich macht. Werden sie uns bewusst, zufällig oder in der Psychoanalyse, so webt das Ich ein neues, logisches Wahnsystem, in das die verdrängten Daten integriert wurden, dass jedoch ebenso wenig der Realität entspricht wie das vorherige Bild. Fassen wir kurz zusammen: Ein Trieb des Urselbst wird vom Ich aufgegriffen, an die Außenwelt angepasst und die Rückwirkung dem Selbst, bzw. im Selbst abgespeichert, wobei sie je nach Erfolg manipuliert wird. Dieser Prozess läuft unbewusst ab und erst wenn das Ich auf eine Handlung fokussiert wird, weil sie Aufmerksamkeit erfordert, wird sie dem bewussten Teil des Ich zugänglich gemacht.

    Noch ein Wort zum Ich. Es besteht aus einem Konglomerat von Einzel-Ichs (Körper-Ich, Verortungs-Ich usw.), die unter dem Pseudonym ihres Namens zusammengeführt wurden, um effektiver auf Situationen der Außenwelt reagieren zu können. So wie das Selbst gegenüber seinem Urselbst blind ist, so auch in Bezug auf Teile des Ich.


    Wahn als Gegengewicht


    Die Unterschiede zwischen Urselbst und Selbst fordern ihren Tribut. Das Bestreben des Ich nach Einheit, Selbstentfaltung auf der einen Seite und Realität auf der Anderen, kann extreme Wahnsystem produzieren, in deren Tross der Mord an Frau und Kindern oder der Amoklauf und der Tod Unschuldiger mitgeführt werden.

    Stellen Sie sich das Urselbst als Mittelpunkt einer Kreisbahn vor auf der ein Trabant, unser Selbst, seines Weges zieht. Verwirklicht sich das Urselbst in nicht angemessener Weise in der Außenwelt, kommt das Selbst aus seiner Bahn und kann nur durch das Wahnsystem des Ich wieder auf seine Kreisbahn oder eine dieser nahe liegenden gebracht werden. Das eine solche Ausgleichsbewegung nicht endlos fortgeführt werden kann, bzw. zu stets irreversibleren Wahngebilden führt, an deren Ende die Auflösung des stabilen Gleichgewichts steht, ist leicht ersichtlich. Die Zerstörung des Selbst ist immer ein Akt mangelnder Verwirklichung des Urselbst (Körperliche Fehlfunktionen sind hier ausgenommen). Welche Einflüsse und Wechselwirkungen sich zufällig an die sich ausprägende Wahnkonstellation anhängen, ist von untergeordneter Bedeutung. Selbstverwirklichung ist kein starrer Prozess und nicht jede Abweichung führt zur Eskalation.

    Das Selbst ist von Beginn seines Daseins an, ein von seinem Urselbst getriebenes Wesen. Vergleichen wir es mit einem Wagen der einen Berg hinab rollt. Ihr Ich sitzt am Steuer. Links und rechts steile Abhänge. Alle paar Meter liegen Gegenstände auf der Straße und zwingen ihr Ich zu riskanten Ausweichmanövern. Kleinere Hindernisse stellen kein besonderes Problem für dessen Fahrkünste dar, größere hingegen fordern sein gesamtes Können heraus. Doch irgendwann, die Bremse ist, wie sich herausstellt, defekt, nützt ihm sein ausgezeichnetes fahrerisches Können nichts mehr; die Ausweichbewegung überfordert das Material, unser Ich. Der Wagen schleudert. Dem Ich gelingt mit einem letzten verzweifelten Kraftakt kurzzeitig die Rettung, ehe der Wagen unkontrollierbar wird, ausbricht und die Beteiligten über die Böschung hinab in den Tod reißt. Viele Komplikationen des Lebens, selbst härteste Schicksalsschläge können überwunden werden, während ein nichtiger Streitfall die Katastrophe auslöst. Unser Wissen über die inneren Zusammenhänge ist dürftig, obwohl die Wissenschaft mit Siebenmeilenstiefeln ausschreitet. Doch die Wechselwirkungen zwischen dem Einzelnen und der Außenwelt, dessen besondere interne Verarbeitung, sprengen in ihrer Komplexität jegliche Vorstellungskraft. Der Beitrag des Ich zum Überleben des Selbst – sein wahrer innerer Zustand, darüber können wir mit unserem heutigen Wissen nur ungenügende Aussagen treffen.

    Die Psychologie ist für mich Oberflächenbetrachtung und selbst unter Hypnose offenbart sich dem Therapeuten nicht das wahre Selbst des Patienten. Psychologie gewährt mir vielleicht Einblicke in das Gefühlsleben des Patienten; welche Erfahrungen er in der Kindheit gemacht hat und sie sich auf sein späteres Leben auswirken. Angst vor Spinnen und ihre Ursachensuche in der Tiefe des Unbewussten, dort wo das Kind immer noch zu Hause ist. Wir nehmen jedoch stets nur Reaktionen auf das Urselbst wahr und behandeln deshalb, wie auch in der modernen Medizin, nur die sichtbaren Auswirkungen des Übels. Sicherlich gibt es Erfolge; Patienten die seit Jahren nicht für sich selbst sorgen konnten, die in ihren Wahnsystemen gefangen waren, sich in ihren Betten verkrochen hatten und das Tageslicht mieden, sind jetzt wieder in die Lage versetzt, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch Achtung! Lebensfähig sein, bedeutet nicht, das der Mensch sich gemäß seines Urselbst verwirklicht, sich in seliger Harmonie mit ihm befindet. Das Ich ist zu vielem fähig und ein in seinem Bestand gefährdetes Wahnsystem ist schnell umgedeutet; der Wahn wird in ein neues Sinngebilde integriert. Urselbst, Selbst und das alte Wahnsystem werden mit Hilfe des Psychiaters, der einen Teil der Anpassungsleistung des Ich übernimmt, unter einem neuen Dach vereint.


    Schlusswort


    Wahngebilde sind der Umweg des Lebens zum Überleben; der Drang des Urselbst zur Entfaltung und damit zu sich selbst. Das Urselbst sagt: „Ich will werden, der ich bin“ und das Ich antwortet: „Du bist der, der Du sein willst“. Das Urselbst will Ewigkeit, selbst um den Preis alter Vorstellungen und Hoffnungen, eingebettet in ein Wahnsystem, welches, selbst wenn es durchschaut wird, nur mit einem Neuen eingekleidet wird. An dieser Stelle treten wir erneut in den Bereich des Glaubens ein: Das woran ich glaube, erhebe ich zu meiner Wahrheit. Mit anderen Worten: Indem ich glaube, es in meiner Vorstellungskraft zur realen Möglichkeit erhebe, verleihe ich ihm Wahrheit.

    Möglichkeit impliziert Realität – mögliche Realität. Das heißt: Es ist nicht auszuschließen und damit ist ihm die Tür zur Wirklichkeit geöffnet. Das Ich rettet damit das Selbst und sich vor dem sicheren Untergang.

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