Nirvana

  • Leerheit und Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit

    1 Leerheit und Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit

    1.1 von Prof. Masao Abe, Kyoto


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    Zen-Garten im Daitokuji-Kloster in Kyoto

    Der Begriff "Wechselseitig bedingtes Entstehen" (in Pali: paticca-samuppada, in Sanskrit: pratitya-samutpada) ist in der Lehre des historischen Shakyamuni Buddha der grundlegende Begriff für ein illusionsfreies Verständnis der Wirklichkeit. Als solcher steht er bis heute im Mittelpunkt der Tradition des Theravada-Buddhismus (Sri Lanka, Burma, Thailand, Laos, Kambodscha).

    Dagegen bildet der Begriff der "Leerheit" (in Sanskrit: sunyata) die zentrale Kategorie in der Tradition des Mahayana-Buddhismus (Tibet, China, Vietnam, Korea, Japan). Seine Bedeutung wurde insbesondere von der Madhyamika-Philosophie des Inders Nagarjuna (2 Jhd.) geprägt.

    Vordergründiger Einsicht erscheint das, worauf diese beiden Begriffe und buddhistischen Schulen sich beziehen, von gegensätzlicher Natur zu sein. Masao Abe zeigt hier jedoch, dass sie in Wahrheit eine dialektische Einheit bilden. So kommen die zentralen Begriffe des Buddhismus unserer heutigen wissenschaftlich-systemischen Weltsicht sehr nahe, vertiefen diese aber noch wesentlich und universal.

    Der Begriff der Leerheit ist nicht nihilistisch zu verstehen. Er beinhaltet einen positiven, bejahenden Aspekt. Was die Lehre von der Leerheit letztendlich negiert, ist die Existenz eines Selbst (atman) und einer mit Eigennatur, mit Substanz ausgestatteten Entität (svabhava). Durch das Negieren des Selbst und einer mit Selbstnatur ausgestatteten Entität kann sich die wahre Wirklichkeit manifestieren. Obwohl die Negation ein wesentlicher Faktor in der Madhyamika-Philosophie ist, wäre sie eine nihilistische Philosophie, wenn es sich dabei um eine reine Negation handelte. Es ist aber durch diese Negation von Atman und Svahhava, das heißt durch die Verwirklichung der Leerheit aller Dinge, daß sich das Gesetz des Entstehens in gegenseitiger Abhängigkeit (pratitya-samutpada) manifestieren kann. Bei Nagarjuna sind Leerheit und Abhängiges Entstehen gleichbedeutend. Deshalb sagt er in Kapitel 24 des Mulamadhyamakakarika:


    Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit ist nichts anderes als das, was wir Leere nennen; dieses Berücksichtigen aller anderen Dinge, das ist das Verständnis des Mittleren Wegs. (24:18)


    Es existiert kein Dharma, das nicht abhängig entstanden wäre, und so existiert kein wie immer geartetes Dharma, das nicht-leer wäre. (24: 19)


    Und tatsächlich sieht es die Madhyamika-Philosophie als ihre zentrale Aufgabe an, in die Wahrheit des Entstehens in gegenseitiger Abhängigkeit einzudringen.


    Die Lehre vom Abhängigen Entstehen repräsentiert einen fundamentalen Standpunkt des frühen Buddhismus und ist seine grundlegendste Lehre. Von historischer Warte aus gesehen, hat sich die Lehre vom Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit von den Anfängen des Buddhismus bis hin zum Madhyamika gehalten. Das Hinayana interpretierte die Lehre vom Abhängigen Entstehen auf stereotype Art und Weise, aber im Prozeß der geschichtlichen Entwicklung fand die Madhyamika-Philosophie auf der Grundlage der vollkommenen Verwirklichung der Leerheit wieder zur ursprünglichen dynamischen Natur dieser Lehre zurück. Obwohl die Lehre vom Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit den Gedanken der Kausalität (das heißt eine kausale Beziehung zwischen Ursache und Wirkung) andeutet, ist das Abhängige Entstehen, wie es Nagarjuna versteht, nicht ein Prozeß, der von einer selbst-existierenden Ursache zu einer selbst-existierenden Wirkung führt. In seinem Mulamadhyamakakarika (24:19) sagt er:


    "Es existiert kein Dharma, das nicht abhängig entstanden wäre, und so existiert kein wie immer geartetes Dharma, das nicht-leer wäre.


    Sowohl das Dharma, das die Ursache ist, als auch das Dharma, das die Wirkung ist, ist bar jeder selbst-existierenden Entität. Wir wissen, daß der Brennstoff die Ursache des Feuers und das Feuer die Wirkung des Brennstoffs ist. Nun müssen wir einen Schritt weiter gehen und fragen: Was war früher da, das Feuer oder der Brennstoff? Wenn wir sagen, das Feuer wäre als erstes dagewesen, sehen wir uns mit einer logischen Absurdität konfrontiert, nämlich damit, daß das Feuer ohne Brennstoff brennt. Nehmen wir hingegen an, der Brennstoff wäre als erstes dagewesen, sehen wir uns mit einer anderen logischen Absurdität konfrontiert, nämlich damit, daß wir eine Ursache ausmachen, ohne von einer Wirkung zu wissen. Sagen wir aber, daß beide gleichzeitig erschienen seien, dann müßten alle Brennstoffe gleichzeitig brennen. Für Nagarjuna ist das Abhängige Entstehen in seinem wahren Sinn dann realisiert, wenn das Eigensein aller Dinge vollkommen negiert und als leer erkannt wurde.


    Im ersten Kapitel des Mulamadhyamakakarika, das den Titel "Eine Analyse der bedingenden Ursachen" (pratyaya) tragen könnte, schreibt Nagarjuna:


    "Nie werden Dinge gefunden, die durch sich selbst, durch ein anderes, durch beide oder ohne Ursache entstehen." (1:1)


    Diese Behauptung negiert aber nicht, daß Dinge entstehen. Feuer entsteht, empirisch gesprochen, aus Brennstoff. Sie negiert vielmehr die Existenz einer selbst-seienden Entität. Mit anderen Worten: Diese Aussage weist einfach auf die Funktion des Abhängigen Entstehens hin, indem es keine unabhängige Entität gibt. So wird klar, daß nach Nagarjuna die Verwirklichung von Leerheit untrennbar mit dem Gesetz des Entstehens in gegenseitiger Abhängigkeit verbunden ist.


    2 Die Identität von Samsara und Nirvana

    Die Identität von Leerheit und Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit und die dynamische Wechselbeziehung zwischen den beiden Wahrheiten der Madhyamika-Philosophie finden ihre volle religiöse Verwirklichung in der Mahayana-Lehre von "Samsara-wie-es-Ist ist Nirvana".



    Für einen Buddhisten ist Nirvana das Ziel, das er durch das Hintersichlassen des Samsara erreichen kann. Will man sich vom Leiden befreien, darf man nicht dem Samsara verhaftet sein. "Während seiner ganzen Geschichte hat der Mahayana- Buddhismus immer gesagt: Verweile nicht im Nirvana. Er hat aber auch immer gesagt: Verweile nicht im Samsara. Verweilt man im sogenannten Nirvana, weil man das Samsara transzendiert hat, ist man noch nicht frei von Festhalten, denn man haftet noch am Nirvana, und dieses Unterscheiden zwischen Nirvana und Samsara wirkt sich einschränkend aus." (Masao Abe, Zen and Western Thought) Man ist noch immer "selbstsüchtig, weil man abgehoben in der eigenen Erleuchtung weilt, getrennt vom Leiden aller anderen im Samsara gefangenen Wesen. Wahre Selbstlosigkeit und wahres Erbarmen können nur verwirklicht werden, indem man das Nirvana transzendiert und mitten ins Leiden der sich ewig wandelnden Welt zurückkehrt, um in ihr zu wirken." "Das Nirvana im mahayanistischen Sinn transzendiert zwar das Samsara, es ist aber nichts anderes als die Verwirklichung von Samsara als Samsara - nicht mehr und nicht weniger. Und dies ist nur dadurch möglich, daß man vollkommen ins Samsara zurückkehrt. Aus diesem Grund heißt es im Mahayana vom wahren Nirvana oft, "Samsara-wie-es-Ist ist Nirvana".



    Das Nirvana ist die wahre "Quelle von Weisheit (prajna), denn es ist völlig frei von jedem diskriminierenden Denken und deswegen fähig, alles Sein in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit zu begreifen, ohne Anhaften zu entwickeln. Es ist auch die Quelle von Erbarmen (karuna), denn es widmet sich selbstlos der Erlösung aller anderen im Samsara gefangenen Wesen, was dadurch möglich ist, daß man selbst ins Samsara zurückkehrt." Der Mahayana-Buddhismus betont also, "daß man um der Weisheit willen nicht im Samsara verweilen soll und daß man nicht im Nirvana verweilen soll, um sein Erbarmen zur Erfüllung zu bringen". Dieses vollkommene Nicht-Verweilen, dieses freie Pendeln zwischen Samsara und Nirvana, zwischen Nirvana und Samsara, ist das wahre Nirvana im mahayanistischen Sinne. Und dies ist die soteriologische Bedeutung der Leerheit.

    Masao Abe ist einer der führenden Interpreten des japanischen Zen-Buddhismus und der heutigen Vertreter der sog. "Kyoto-Schule" der japanischen Philosophie. Er lehrt an zahlreichen Universitäten Japans, Europas und der USA.

    Der Text ist entnommen dem Kapitel "Buddhismus" aus dem Buch: "Innenansichten der grossen Religionen", Herausgegeben von Arvind Sharma, Fischer Taschenbuch, 1997.

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