Das Ich bin

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„Wovon wird das ‘Ich bin’ vergiftet und mit Auflösung bedroht?“, fragte der Vater eines Schülers von der Sorge um das Wohlergehen seines Sohnes getrieben, der zufällig des Weges kam und dessen geweckte Neugier, ihn der Belehrung des Tathagata lauschen ließ.

„Höret!“ sagte Tathagata. „Der Vogel baut sein Nest nach seiner Art. Weshalb handelt er so?“ Ohne auf eine Antwort zu warten fuhr er fort: „Weil die Größe des Nestes so gewählt ist, dass es ausreichend Platz für die Eier und sein Weibchen bietet. Mehr Raum würde das Nest auskühlen lassen und die erfolgreiche Bebrütung ebenso gefährden wie ein zu kleines Nest, das die Eier mit Zerstörung bedrohte. Das Nest bildet somit die goldene Mitte, und es tut dies, weil es auf diese Weise seinen Daseinszweck auf die bestmögliche Art erfüllt. Es drückt auf diese Weise das Wohlergehen, die Erhaltung der Art, aus, die ihm am Herzen liegt und aus diesem Grund ist ihr Tun sinnvoll, welches sie durch den Vogel bewirkt. Den Pfad des sinnvollen Tuns kann sie beschreiten, weil der Vogel frei ist von den Gelüsten nach dem Reichtum der Anderen, er ist selbstgenügsam, zufrieden mit seinem Dasein, und das Gefühl von Neid ist ihm fremd. In ihm waltet das Umfassende seiner Art.

Erst mit dem Ich bin, dieser zweischneidigen Klinge, sicherte die Natur den Pfad des Homo sapiens, indem sie ihn auf der einen Seite befestigte und auf der anderen bis an den Abgrund heranführte, der, obschon er Schutz gegen die Unbill des Daseins bot, zur größten Bedrohung seiner Spezies heranwuchs. Mit dem Ich bin trat der Neid in das Dasein des Homo sapiens, in dessen Gefolge sich so machtvolle Gefährten wie die Furcht, der Hass oder die verleumderische Rede befanden. ‘Groß ist das Haus meines Nachbarn’, spricht der Neid mehrmals am Tag, ehe das Ich bin seine bescheidene Hütte betritt. ‘Groß ist das Haus meines Nachbarn’, sagt das Ich bin zu seiner Frau, und die anfängliche Verärgerung, welche in seiner Stimme mitschwingt, weicht schon bald dem Zorn, ehe sie zur Wut heranwächst und das Ich bin in blinde Raserei treibt. Bei Tag und bei Nacht sinnt es nun darüber nach, wie es das von der Gesellschaft begangene Unrecht ausmerzen kann, und wenn die Umstände seines Daseins den Bau eines größeren, dem Nachbarn entsprechenden Hauses verhindern, dann tritt die verleumderische Rede aus dem Dunkel ins Licht seiner bewussten Wahrnehmung und versucht das ihm gegenüber begangene Unrecht der Natur mit Unrecht in Gerechtigkeit zu transformieren. Wo der Same des Neides gedeiht, siedeln sich schon bald die Angst, die Wut und die Meute ihres Gefolges ein, deren Namen Legion sind, ob sie nun Begierde, Hass oder Lüge heißen. Dies sind Gefahren, welche das Ich bin auf seinem Pfad bedrohen“, sprach Tathagata in mahnendem Tonfall, beendete seine Belehrung für den heutigen Tag und überantwortete sowohl seine Schüler als auch den besorgten Vater ihrem eigenen Nachdenken.


Glück und Zufriedenheit

Tathagata

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